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Ich arbeite auf Portland

von Andreas Lindemeier

Wichtigster Arbeitgeber in der Stadt

Zwei Steinbrüche im Galgenberg und in der Weper, eine zugewucherte und aufgefüllte Tongrube oberhalb des Sägewerkes Müller, Reste von Betriebseinrichtungen mit der massiven Kantine, Risse an der westlichen Kante des Galgenbergs, die betonierte Fahrbahndecke der Galgenbergstraße und Kalksteinfundamente einiger Häuser in der Sohnreystraße sind Spuren einer intensiven Industrialisierung im Nordosten der Stadt Hardegsen, die Jahrzehnte lang Arbeitsplätze sicherte und die Stadtentwicklung förderte.

»Ich arbeite auf Portland« war eine oft gehörte Aussage in Hardegsen und in den umliegenden Ortschaften von vielen Männern und wenigen Frauen in Hardegsen, die im 20. Jahrhundert im Zementwerk Hardegsen beschäftigt waren. Bis zu 250 Menschen arbeiteten hier während einer wechselvollen Werksgeschichte.
Das Zementwerk war bis heute der größte industrielle Arbeitgeber und jahrzehntelang der stärkste Steuerzahler der Stadt Hardegsen. Die Entwicklung der Stadt ist im 20.Jahrhundert unmittelbar mit dem Zementwerk verbunden.

Zementwerk 1920 (Signatur li_1012)

Zementwerk 1920

Die Arbeitnehmer identifizierten sich sehr stark mit ihrem Betrieb, trotz harter Arbeitsbedingungen. Es gab viele generationsübergreifende und langanhaltende Betriebszugehörigkeiten. Das Werk bot nach dem 2.Weltkrieg vielen Vertriebenen aus Schlesien und Ostpreußen Arbeit an. Das Unternehmen gewährte sichere Arbeitsplätze, zahlte zusätzliche Betriebsrenten, installierte eine Betriebskrankenkasse, bot einen Notfonds an, schaffte günstigen Wohnraum in Werkswohnungen, stellte zeitweise gepachtetes Ackerland für Gärten zum Kartoffel- und Gemüseanbau zur Verfügung und war finanzieller Förderer etlicher Projekte in der Stadt.

Die Arbeit im Werk war Jahrzehnte lang beim Brechen des Gesteins, beim Beladen auf Loren, beim Schaufeln der Kohle zur Beschickung der Brennöfen, beim Abfüllen der Zementsäcke und deren Verladen durch intensive schwere Handarbeit geprägt. Alles lief im Akkord und im Schichtbetrieb ab. Daneben waren die Beschäftigten starker Luftverschmutzung, Erschütterung, Lärm und anderer Gefahren im Werk ausgesetzt, was immer wieder zu folgeschweren Unfällen führte. Erst die technischen Fortschritte besonders ab den 50er Jahren beim Brechen, beim Transport und an den Mühlen und Öfen entlastete die menschliche Arbeitskraft.

Besonderen Umweltbelastungen war der unmittelbar im Nordosten an das Werk angrenzende Ort Lutterhausen ausgesetzt. Die überwiegend aus Südwesten wehenden Winde legten den Staub aus den Werkschornsteinen auf die Felder und die Dächer, so dass in den 50er Jahren fast alle Dachziegel mit einer bis zu 2cm dicken grauen Masse bedeckt waren. Dringend notwendige Filteranlagen schafften schließlich deutlich spürbare Entlastung.

Die Stadt Hardegsen war von diesen Emissionen weniger betroffen, da Ostwinde selten herrschten und der Galgenberg als Sicht- und Staubschutz diente. In der Stadt waren aber die Sprengarbeiten im Steinbruch des Galgenbergs deutlich durch starke Erschütterungen besonders im nordwestlichen Baugebiet spürbar, was an einigen Häusern zu Rissen führten. Gefahr drohte Anfang der 70er Jahre. Durch die immer intensiveren Sprengarbeiten entstanden heute noch sichtbare breite Risse an der Randkante, die Hardegsen zugewandt ist. Sie wurden mit Beton aufgefüllt. Die geltenden Verträge mit der Stadt Hardegsen hätten dem Werk erlaubt, den Galgenberg noch weiter auszubeuten. Da aber der Rohstoff im Galgenberg auf Dauer nicht ausreichte und man aber den Berg als Sichtschutz zur Stadt unbedingt erhalten wollte, wurde 1974 der Abbau von Kalkstein über die Bahn hinaus in die Weper verlagerte.

Zementwerk 1931 (Signatur li_1031)

Hardegsen war Ende des 19.Jahrhunderts eine ärmliche Stadt. Die Industrialisierung hatte den kleinen Ort am Rande des Sollings noch nicht erfasst. Kleine Handwerksbetriebe, eine spärliche Landwirtschaft, die Domäne und zwei Steinbrüche bildeten die örtliche Erwerbsgrundlage mit viel Beschäftigungslosigkeit im Winter.

Durch eine sich rasch entwickelnden Bautätigkeit, besonders in den Städten, wuchs der Bedarf an Baustoffen. Am 27.Juli 1897 gründeten vier Hardegser Bürger das Unternehmen »Kalksteinbrüche und Kalkwerke Hardegsen« am Standort unterhalb des östlichen Galgenbergs. Die Inbetriebnahme der Bahnlinie Ottbergen-Northeim 1878, die unmittelbar am Standort vorbeiführte, machte einen Gleisanschluss des zukünftigen Werkes 1897 möglich. Im Werk wurden Ziegelsteine gebrannt und Kalk hergestellt. In den ersten sechs Jahren arbeiteten hier 20-40 Männer im Betrieb. Auch im Winter hatten sie Beschäftigung.

Die benötigten Rohstoffe Kalkstein und Ton baute man in unmittelbarer Nähe ab. Kohle konnte mit der Bahn herantransportiert werden. 1903 vertrieb die Firma neben Ziegeln und Backsteinen auch Baukalk, Düngekalk, Pflastersteine, Bordsteine, Steinsplitt und auch schon Zement. Die hergestellten Ziegel und Backsteine erwiesen sich aber bald auf Dauer auf Grund von Kalksteineinschlüssen als unbrauchbar. Die Firma geriet in finanzielle Schwierigkeiten und gab Ende 1903 die Ziegelherstellung auf.

Portland Zement

Erst mit der Erfindung des Portlandzements im 19. Jahrhundert wurde Beton zum dominierenden Baustoff. Die Namensgebung für den damals erfundenen Zement geht auf den englischen Maurer und Bauunternehmer Joseph Aspdin zurück. Der reichte 1824 das Patent für ein neues Bindemittel ein, das er hergestellt hatte, indem er Ton und Kalk gemischt und dann zusammen erhitzt hatte. Das Ergebnis nannte er Portlandzement. Gab man zu dem Bindemittel Wasser hinzu, so entstand ein Zementleim, der nach einer kurzen Trocknungszeit hart, wie Stein wurde. Dieser Kunststein erinnerte Aspdin farblich an die natürlichen Kalksteingebilde auf der südenglischen Halbinsel Portland – daher die Namensgebung (nach Wikipedia).

Zementwerk 1950 (Signatur li_0097)

Zementherstellung

Portlandzement besteht im Wesentlichen aus Kalk, Tonmineralien und/oder Sand. Der Kalkstein wird im Steinbruch abgebaut und zu einem Brecher transportiert, wo die Felsbrocken zerkleinert werden. Dann gelangt das Rohmaterial über eine Förderbandanlage zum Mischbett. Anschließend wird es in das Werkinnere transportiert. Hier wird der Kalkstein mit Quarzsand in einer Rohmühle gemischt, getrocknet und zu Rohmehl vermahlen. Dieses Rohmehl wird in einer Homogenisierungsanlage so gemischt, dass eine gleichmäßige Zusammensetzung die Qualität sichert. In einem Drehofen wird das Mehl dann bei ca. 1450 °C chemisch umgewandelt und unter Zugabe von Gipsstein zu Zementklinker gebrannt. Die Bezeichnung Klinker stammt von der Ähnlichkeit zu hochgebrannten Ziegeln (Klinkern). In den Zementmühlen wird der Klinker zu Portlandzement gemahlen. Der Zement lagert anschließend in Silos, um ihn mit LKW-Silowagen oder mit Behälterwagen der Bahn zu den Kunden zu transportieren. Ein Teil wird in Säcken abgepackt.

Zementwerk 1926 (Signatur li_1013)Zementwerk 1930 (Signatur li_1014)

Handwerker im Werk und Steinbrucharbeiter

Wechselnde Eigentümer

1904 stellten Gründer der Kalkwerke den Kontakt zu dem Zementexperten Hermann Manske her, der bereits am Rand von Hannover drei Zementwerke aufgebaut hatte. Er konnte überzeugt werden auch in Hardegsen eine Zementfabrik aufzubauen. Als förderlich Standortfaktoren galten die gute Verkehrsanbindung durch Bahn und Straße, die langfristig gesicherten Rohstoffvorkommen und ein großes Arbeitskräftepotential in Hardegsen und in den umliegenden Dörfern. Strom wurde anfangs von zwei Lokomobilen erzeugt, Energieträger für das Heizen der Öfen war Steinkohle, die mit der Eisenbahn herantransportiert wurde. Der Sand, den man für die Zementherstellung benötigte, baute man im Steinbruch an der Niedeck (heute Keilereck) ab. Der rote Sand enthielt aber zu viele Alkalien. Daher holte man ab Anfang der 60er Jahre weißen Quarzsand aus der Grube »Eiserner Gustav« bei Delliehausen, ein ehemaliger Braunkohletagebau.

Am 6.Oktober 1904 wurden die »Portland-Cement- und Kalkwerke H.Manske &Co., GmbH, Hardegsen« gegründet. 19 Gesellschafter zeichneten Geschäftsanteile. 1913 wurde dann die Portland Zementfabrik in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Direktor wurde Otto Ohlmer, der auch schon 1904 zu den Gründern der Kalkwerke gehörte. Nach seinem Tod übernahm sein Sohn, Dr.Gerhard Ohlmer, die Führung des Werks. Unter seiner Leitung erlebte das Werk nach dem 2. Weltkrieg durch Neubauten, Umbauten und immer stärkerer Technisierung und Modernisierung des Betriebsablaufs eine starke Aufwärtsentwicklung.

Die Entwicklung des Werkes war von wirtschaftlichen Höhen und Tiefen und von zwei Weltkriegen begleitet. Politische Unruhen und Inflation nach dem 1.Weltkrieg, Engpässe in der Materialversorgung, wie z.B. der Kohle, sowie drohende Demontage der Werksanlagen nach dem 2.Weltkrieg belasteten die Produktion.

Zementwerk 1990 (Signatur li_1022)

Die schwerste Zeit erlebte das Werk 1932. Die Beschäftigungszahl ging von 224 im Jahre 1929 auf 84 im Jahr 1932 zurück. Hardegsen zählte damals 1450 Einwohner und hatte annähernd 200 Erwerblose. Nur 26.300 Tonnen Zement konnten 1931 versandt werden.
1986 war das beste Jahr der Werksgeschichte. Die Jahresversandmenge an Zement betrug 377.558 Tonnen bei 117 Betriebsangehörigen.

Immer wieder wurde in das Werk neuste Technik eingebaut, die die Produktivität deutlich erhöhte. Die Entwicklungszahlen der Zementindustrie in Deutschland insgesamt lassen sich auch auf die Hardegser Zementfabrik übertragen: Bei Aufnahme der Zementindustrie in Deutschland wurde im Jahr 40 Tonnen Zement pro Arbeitskraft hergestellt, 1900 140 Tonnen, 1955 643 Tonnen und 1974 2055 Tonnen. Dementsprechend sank im Hardegser Werk auch die Belegschaft. Waren es in den 50er Jahren durchschnittlich 200 Beschäftigte, sank die Zahl in den 60er Jahren auf knapp 180 und 1980 waren es 107 Beschäftigte.

Zementwerk 1953 (Signatur te_0337)

Ein neuer Drehofen wird angeliefert

Veränderungen

Eine deutliche sichtbare Veränderung im Werksgelände erfolgte 1974. Der Steinbruch im Galgenberg wurde aufgegeben und im südlichen Bereich wieder verfüllt. Ein neuer Bruch wurde in der Weper erschlossen. Die Anbindung zwischen Hauptbetriebsgelände und neuem Bruch erfolgte durch ein Transportband, das mittels einer Metallkonstruktion über die Bahngeleise geführt wurde.

Das stete Bemühen des Werkes, seine Wettbewerbsfähigkeit zu sichern und langfristig zu erhalten, scheiterte 1996. Die Lage des Werks zwischen Konkurrenzstandorten in Westfalen und Thüringen und die ländliche Struktur ohne industrielle Schwerpunkte waren deutliche Wettbewerbsnachteile. Hinzu kam eine sechsjährige Auseinandersetzung mit Aufsichtsbehörden, mit einer Bürgerinitiative und mit der Stadt Hardegsen bezüglich des Einsatzes alternativer Roh- und Brennstoffe im Werk. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung stellte der TÜV Hannover in einer Umweltverträglichkeitsstudie fest, dass die Untersuchung des Zustandes im Umkreis des Werkes ergeben hat, dass die Zementherstellung in fast 100 Jahren zu keiner Beeinträchtigung der Umwelt geführt habe.

Im Dezember 1996 entschieden der Vorstand und Aufsichtsrates der »Nordcement«, die Zementherstellung in Hardegsen einzustellen. Am 31.3.1998 wird die Produktion von Zementklinker in Hardegsen eigestellt. 32 von ursprünglich 120 Mitarbeiter werden kurzzeitig weiterbeschäftigt, um in einem Mahlwerk Hochofenschlacke zu Hüttensand zu mahlen. Diese Arbeit wurde am 31.3. 2003 eingestellt und das Werk schloss endgültig.

Zementwerk, neuer Steinbruch (Signatur li_0697)

Der neue Steinbruch in der Weper

Die sehr wechselvolle Geschichte des Zementwerks mit all ihren technischen Neuerungen und Betriebserweiterungen, mit Informationen zum geschichtlichen Kontext, Erläuterungen zu Betriebsangehörigen und viele Entwicklungszahlen stellt Dietrich Schmidt, letzter Werkleiter des Zementwerkes, sehr detailliert in dem Buch »Portland-Cementfabrik Hardegsen 1897-1997«, erschienen 1997, vor.

Mein Dank gilt Dietrich Schmidt, Werksleiter der Zementfabrik von 1980-1997, der mich redaktionell unterstützte.